Noch leidet die Welt unter den Belastungen der Sars-CoV-II Krise (kurz: Corona-Krise). Noch steigen in vielen Ländern die Zahlen der Erkrankten. Zwar öffnen die Unternehmen nach und nach ihre Büros und Betriebe, aber noch kann niemand sicher abschätzen, ab wann wieder komplett normal gearbeitet werden kann. Viele Mitarbeiter sind noch im Homeoffice, Geschäftsreisen wurden abgesagt und Meetings in virtuelle Räume verlegt. Alle, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, warten darauf, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens zurückgenommen werden und das Leben wieder in seine gewohnten Bahnen der Vor-Corona-Zeit zurückkehrt.
Aber unabhängig von der Gefahr einer zweiten Infektionswelle: Ist diese Hoffnung auf eine Rückkehr zur Vor-Corona-Zeit realistisch? Die Corona-News wiederholen sich allmählich und spiegeln mehr oder weniger die Lernfortschritte der Virologen wider. Und die Informationen, wie viele sich wann und in welchem Restaurant neu angesteckt haben, sind wirklich nicht informativ. Wir müssen wieder langsam lernen, dass es auch noch andere wichtige Themen in unserem Leben gibt.
Aber eine zentrale Frage bleibt: Welche Schlussfolgerungen können wir aus der Corona-Pandemie ziehen?
Wenn sich die Virologen zurückziehen, kommt die Stunde der Futurologen. Keiner weiß heute mit Sicherheit, was die nächsten zwei Jahre wirklich an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen bringen werden. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es aber möglich, die jetzt schon erkennbaren „Wurzeltriebe“ zu beschreiben, ohne genau zu wissen, wie die „Blüten“ genau aussehen werden.
Die folgenden zehn Hypothesen sind erlaubt und sollen zum Nachdenken anregen:
1. Aus der Verhaltensforschung wissen wir, dass der Mensch selten aus seinen Fehlern lernt und nach Krisen gerne wieder in den alten „Trott“ zurückfällt. Bis auf einige Ausnahmen wird das auch nach Corona wahrscheinlich so sein. Das Bewusstsein über die richtigen Lehren aus Krisensituationen hält etwa 6 Monate an. Das Phänomen wird von Festinger als kognitive Dissonanz bezeichnet, indem irrationales Verhalten durch psyeudorationale Erklärungen gerechtfertigt wird.
2. Davon abweichend wird es wahrscheinlich kein Zurück mehr in die alte Arbeitswelt geben. Corona ist ein Booster für das Smart Working. Bildungseinrichtungen und Unternehmen haben gelernt, wie aus der Distanz Bildung und Arbeit virtuell auf der Basis von Kollaborations-Tools erfolgreich umgesetzt werden kann. Haben empirische Studien gezeigt, dass vor Corona noch knapp über 50 % der Unternehmen Vorbehalte gegen Home-Office hatten, so zeigen erste Studien, dass fast drei Viertel der Unternehmen ihre Vorbehalte gegen das flexible Home-Office kombiniert mit Büropräsenz aufgeben.
3. Corona hat die agilen Arbeitsformen salonfähig gemacht. Unternehmen mussten sehr schnell ihre Arbeitsform ändern. Dabei haben sich Teams gebildet, die sich untereinander die zu leistenden Aufgaben selbst gestellt, verteilt und erledigt haben, ohne dass ein Instanzenweg notwendig war. Der Vorgesetzte wurde zum Coach und Mentor des Veränderungsprozesses. Transformationale Führungsstrukturen sind zukunftsweisend und lösen den Fayol´schen Managertypen ab. Jedoch setzen agile und transformationale Organisationen hohe Qualifikationsstufen der Mitarbeiter voraus und sind nicht in jeder Branche und bei jeder Mitarbeiterstruktur umsetzbar.
4. Corona wird auch das Kaufverhalten langfristig ändern. War es vor Corona in vielen Läden nicht möglich, online zu bezahlen, so sind diese Läden inzwischen über jeden Umsatz froh und akzeptieren mittlerweile alle Bezahlformen. Auch das online-shopping hat durch Corona einen enormen Schub erhalten.
5. Das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) wird in diesem Jahr um die 9,0 % schrumpfen (IW-Konjunkturprognose vom 25.05.). Viele vergleichen das mit der Weltwirtschaftskrise 1929, durch die das volkswirtschaftliche Leistungsvolumen um 6,7 % schrumpfte. Dieser Vergleich hinkt jedoch gewaltig angesichts der Tatsachen, dass das Wohlstandsniveau der Bevölkerung und die Ausstattung der Volkswirtschaft mit Produktionsfaktoren in 1929 ganz andere waren, als das heute der Fall ist.
6. Gerade die Brüning´sche Sparpolitik der Weimarer Republik konnten die wirtschaftlichen Folgen der Weltwirtschaftskrise nicht zu verhindern, eher das Gegenteil trat ein. Erst einige Jahre später veröffentliche John M. Keynes sein Werk „The General Theory of Employment, Interest and Money, 1936, in dem u.a. gefordert wird, dass gerade in Krisenzeiten der Staat sich verschulden und seine Ausgaben erhöhen muss (deficit spending). Die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik hat innerhalb weniger Wochen ihre neoliberale auf die keynesianische Fiskalpolitik umgestellt. Es ist zu erwarten, dass sie auch wieder nach der Krise auf den neoliberalen Kurs zurückfällt und die zusätzliche Schuldenlast bis Ende 2026 zurückfahren wird. Die staatlichen „Finanzgeschenke“ sind nur Leihgaben und müssen zurückgegeben werden.
7. Es gibt drei Szenarien für die Weltwirtschaft nach Corona. Das optimistische V-Szenario: danach fällt die Wirtschaft auf einen Tiefpunkt, um sofort wird in den Aufwärtstrend zu gehen (Frühjahr/Sommer 2021). Das U-Szenario: die Wirtschaft nähert sich einem Tiefpunkt, verharrt dort einige Monate, um dann langsam wieder an Fahrt zu gewinnen (Herbst/Winter 2021). Das L-Szenario: Die Wirtschaft fällt auf einen Tiefpunkt und geht von dort aus längerfristig in die stabile Seitwärtsbewegung (Erholung 2023). Durch das Hilfspaket der Bundesregierung von rund 1,2 Billionen € wäre das V-Szenario sehr realistisch, aber das hängt letztlich davon ab, wie die wirtschaftliche Erholung in den G-20 Länder (erzeugen 80 % der Weltwirtschaftsleistung) erfolgt. Wir vergessen bei den optimistischen Prognosen gerne, dass wir eine exportabhängige Wirtschaftsnation sind und die Binnennachfrage nicht ausreicht, ausreichendes Wirtschaftswachstum zu generieren. Das U-Szenario wird immer wahrscheinlicher.
8. Corona hat die Schwächen einer global vernetzten Wirtschaft mit ihren Produktionsketten deutlich gemacht. Die Produktionsverlagerung wichtiger infrastruktureller Güter und Dienstleistungen erhöhen das Klumpenrisiko der Produktion und damit auch die Anfälligkeit der heimischen Wirtschaft. In den Strategieabteilungen der Großkonzerne wird bereits daran gearbeitet, wie die Produktionsketten diversifiziert werden bzw. wieder in das Heimatland zurückgeholt werden können. Die bekannte GloKalisierung: global denken, lokal handeln, d.h. das Handwerk boomt, Netzwerke werden lokalisiert und die ortsnahe Produktion ist wieder gefragt.
9. Andererseits geraten wir immer mehr in die Abhängigkeit von Amazon, eBay und andere US-amerikanische Konzerne, die längst die Information als eigenständiges Wirtschaftsgut veredelt haben. Bemerkenswert, wie schnell Tools wie Zoom, Discord u.a. an Fahrt aufgenommen haben. Waren wir in den letzten Jahrzehnten eine rohstoffabhängige Wirtschaft, so werden wir in Zukunft eine noch stärkere informationsabhängige Wirtschaft werden. Die Versäumnisse und Fehleinschätzung der Politik hinsichtlich der Bedeutung der Digitalisierung sind jetzt evident geworden. Der Vorsprung von China und den USA in der Informationstechnologie ist kaum – wenn überhaupt – aufzuholen.
10. Corona hat zur Entschleunigung und zur Schwerpunktverlagerung in unserem Dasein geführt. Das soziale und kulturelle Bewusstsein hat sich gestärkt und die Erkenntnis, was wirklich wichtig ist, hat die Sichtweise verändert. Die Trash-Sendungen sind während der Coroanakrise in den Zuschauerzahlen auf einen Tiefpunkt gefallen, politische Gruppierungen links und rechts des Randes haben ihre Aufwärtsfahrt vor Corona beendet und sind stellenweise im freien Fall, das sozialpolitische Bewusstsein und Engagement ist gestiegen, die Natur wird ebenfalls bewusster wahrgenommen und die Erkenntnis, dass Geld nicht alles ist, hat deutlich zugenommen. Corona wirkt wie ein Social Reset.
Die blinden Flecken in unserer Welt sind durch Corona als System-Crash ausgeleuchtet worden und wie immer kommt es auf jeden Einzelnen darauf an, was er daraus macht. Jede Veränderung bringt Verlierer und Gewinner hervor. Verlierer sind meistens die nicht anpassungsfähigen „Saurier“, die sich auch bei einem globalen Crash nicht anpassen können. Größe ist auch heute kein Erfolgsgarant mehr!